Gestern Abend, so mein Ehemann, habe er nachgedacht, denn irgend-
jemand habe entdeckt, dass es im Durchschnitt 15.000 Stunden brauche, um auf einem Gebiet – und dann auch nur auf diesem – Weltklasseniveau zu erreichen. Er frage sich nun, wie und ob ich, seine Ehefrau, dies mit ihm, meinem Lieblingspferd, noch schaffen wolle. Und darüber solle nun ich,
seine Ehefrau, doch auch einmal nachdenken.
Kein Problem, dachte ich, was sind schon 15.000 Stunden. Aber dann begann ich zu rechnen. In meinem Alter und mit meinem aktuellen Reitpensum wäre ich demnach im Alter von 99 Jahren eine Reiterin mit Weltklasseniveau. Vorausgesetzt, ich würde dieses Alter erreichen, mag ich mir jetzt nicht vorstellen, wie es aussieht, wenn ich mich als 99jährige schwankend in einen Sattel hebe und der Welt verkünde „Ja, jetzt bin ich eine Weltklasse-
reiterin, aber eigentlich spüre ich meine Beine nicht mehr, ich kann nicht weiter sehen als bis zu den Pferdeohren und überhaupt habe ich vergessen, was ich hier oben will“.
Natürlich könnte ich für den guten Zweck mein sportliches Pensum erhöhen und die Zeit verkürzen. Zehn Jahre wären eine realistische Altersperspektive, zu erreichen allerdings nur mit einer 28 Stundenwoche im Sattel. Und auch das mag ich mir nicht vorstellen und könnte es mir auch gar nicht leisten.
Also wird nichts aus meinem Weltklasseniveau und in Wahrheit bin ich froh einen Level erreicht zu haben, auf dem ich einfach Spaß am Sport und an meinem Pferd haben kann. Ab einem bestimmten – sehr angenehmen – Alter ist das Ego eben deutlich weniger spröde als die Knochen oder ist es doch umgekehrt? Man hat schon viel erreicht, lässt sich nichts mehr vormachen und versteht die Welt, jedenfalls fast. Nein, beweisen muss man sich nichts mehr. Man weiß was man kann und geht mit dem was man nicht kann gelassen um. Und diese Gelassenheit der Erfahrung kann mir auch mein Reitlehrer nicht nehmen, der mich regelmäßig auf einen Stand der Verständnislosigkeit zurück wirft, den ich im wirklichen Leben schon im Teenageralter überwunden hatte. Aber er sieht alles, hört alles und hat, wahrscheinlich wegen seiner 15.000 Stunden Erfahrung, meistens sogar Recht. Aus zehn Metern entfernt erkennt er, dass die Ferse meines äußeren Beins mal wieder hoch gerutscht ist und spart auch sonst nicht mit lautstarken Kommentaren. „Gerade sitzen, Knie tief, mehr Schwung, mehr Konzentration, leichter in der Hand, innere Hüfte nach vorn, mehr annehmen, los lassen“ – keine Pferdelänge ohne Korrektur. Man schwitzt, das Gesicht wird rot und an die klebenden Haare unter der Kappe möchte man gar nicht denken. Und alles geschieht natürlich immer vor dem stalleigenen Publikum, das lächelnd an der Bande steht. Ego und Knochen nähern sich in diesen Momenten unaufhaltsam an, egal in welche Richtung.
Ab einem bestimmten – sehr angenehmen – Alter fragt man sich, während man absattelt und langsam wieder den Boden unter den Füßen spürt, dann doch: braucht man das noch? Und meine Antwort ist jeden Tag gleich:
Im Spiegel unserer Pferde finden wir uns selbst und diese Magie erlebt jeder, der bereit ist sich auf das Abenteuer Pferd einzulassen. Ich schaffe sicher die 15.000 Stunden nicht mehr, aber mein Herz ist schon jetzt 15.000 mal größer und ich sattle immer wieder auf.
Und das, so mein Ehemann, habe er eigentlich nur hören wollen
Herzlichst, Ihre Carla